VORWORT

Heutzutage werden die deutsche Besetzung der Tschechei von 1939 bis 1945 und die anschließende Vertreibung der Sudetendeutschen von 1945 bis 1946 gemeinhin als das tschechisch-deutsche Drama des 20. Jahrhunderts wahrgenommen. Die Zeit davor löst sich im Nebel des Vergessens auf. So werden die Jahre der Tschechoslowakei bis 1939 in den Schulen Deutschlands in aller Regel nicht behandelt. Diese Jahre strahlen aber auf die Zukunft ganz Europas aus. Sie sind es, die ohne Umweg in den Zweiten Weltkrieg führen. So ist das tschechischdeutsche Verhältnis von 1918 bis 1939 ein wesentliches und schicksalhaftes Stück der eigenen Geschichte, diese Jahre sind das eigentliche Drama. Der Blick auf das deutsch-tschechische Verhältnis in dieser Zeit zeigt exemplarisch, wie aus der explosiven Nachkriegsordnung von 1919/21 erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit und Wucht der neue Krieg entsteht. Die erste Szene dieses Dramas ist die Errichtung eines künstlichen Vielvölkerstaates, dem über sechs Millionen Menschen fremder Nationen zu einem Drittel ohne ihre Zustimmung und zu zwei Dritteln sogar gegen ihren ausdrücklichen Willen zugeordnet werden. Auf dieser Bühne entfaltet sich der Freiheitsdrang der Sudetendeutschen, der Slowaken, der Ungarn und Ruthenen, die zuerst bescheiden ihre Autonomie innerhalb der Tschechoslowakei verlangen, die zwei Jahrzehnte mit nicht gehaltenen Versprechen der tschechoslowakischen Regierung hingehalten werden, und die zum Schluss mit aufgestauter Wut den ungeliebten Staat verlassen. Es ist die Bühne, auf der am Ende dieses Stückes Adolf Hitler die Regie führt. Den Schlussakt des Dramas spielen vier Parteien: die tschechoslowakische Regierung, die den Bestand des Staates mit Gewalt erhalten will, die alten Siegermächte, die ihren Einfluss wahren und den deutschen Machtzuwachs verhindern möchten, die sechs Millionen „Minderheitenbürger“, die den Staat verlassen wollen und Adolf Hitler, der seine Unterstützung für die Minderheiten überzieht, sie mit der Annexion der „Rest-Tschechei“ missbraucht und damit die Schleusen für den Zweiten Weltkrieg öffnet. So wird das tschechisch-deutsche Drama zum Vorspiel der nächsten Katastrophe.

Gerd Schultze-Rhonhof September 2008